Die NFL-Twitter-Bubble ist ein besonderer Ort. Ein Ort, in dem sich unfassbar viel Wissen tummelt. Ein Ort, an dem man lernen kann. Ein Ort, der bereichert. Aber auch ein Ort der Gegensätze, der Glaubenskriege, der Grundsatzdiskussionen. Wir alle kennen sie, die uralte Debatte ‚Film vs. Analytics‘. Beide Seiten haben die Wahrheit für sich gepachtet. Wenngleich wir eigentlich alle wissen sollten, dass die Welt nur zu selten wirklich schwarz oder weiß ist. Doch glücklicherweise entwickelten sich aus diesen Konversationen auch neue Erkenntnisse, Blickwinkel und Fragestellungen. Eine davon beschäftigt mich dabei schon lange. Und zwar, was wichtiger ist, der Pass Rush oder die Coverage?
The Ravens Way
Einige von euch werden sich jetzt bestimmt fragen: Worauf will der gute Mann bitte hinaus? Ganz einfach: Wo sich die Baltimore Ravens auf diesem Spektrum befindet, lässt sich im Grunde mit einem Satz beantworten: „Follow the money!“ Die Ravens gehörten in den letzten Jahren stets zu jenen Teams, die großen Anteil ihres Cap Spaces in den DB-Room steckten. Laut Spotrac liegt man beim Secondary Spending (in Total Cap Dollars) momentan auf Rang 7, letztes Jahr war es gar der Spitzenplatz. Doch nicht nur die grünen Scheinchen werden hier fleißig investiert, auch der letztjährige First-Round-Safety Kyle Hamilton darf sich in dieser Riege einordnen. Die Secondary sollte daher viel eher als Priority (full pun intended) bezeichnet werden.
Und das, obwohl Defense Coordinator Mike Macdonald schematisch einiges umstellte im vergangenen Jahr. Spielten die Ravens unter Wink Martindale noch in rund 40 % ihrer Snaps Man Coverage, so waren es unter dem Neo-Coach vergangene Saison laut PFF nur noch deren 22,2 % und damit Platz 19 in der NFL. Ein Wechsel, der nach anfänglichen Startschwierigkeiten vorzüglich funktionierte. Mit einer Mischung aus simulierten Pressures, Post-Snaps-Rotations und vorwiegend Two-High-Shells landeten die Ravens am Ende der Saison auf Rang 7 nach DVOA und wurden ihrem Ruf als defensivstarke Franchise damit einmal mehr gerecht. Lange Rede, kurzer Sinn: Der Fokus auf das Defensive Backfield bleibt, die Anforderungen an die Spieler sind mittlerweile jedoch andere. Das bringt potenziell personelle Veränderungen mit sich. Aber wo sich eine Tür schließt, öffnet sich bekanntlich die nächste. Daher lasst uns gemeinsam eintauchen in die zweite Runde (hier geht es zu den QBs) der Positional-Battles der Ravens: den Defensive Backs.
Die Stars in Baltimore
Ähnlich wie die meisten Teams der NFL spielen die Ravens mittlerweile mehr als die Hälfte ihrer Snaps in Nickel. Das heißt, zumindest fünf DBs können getrost als Starter bezeichnet werden. Drei dieser Positionen sollten (außer im Falle von Verletzungen) quasi in Stein gemeißelt werden. Twitter-Clown Marlon Humphrey ist, seitdem er 2017 von den Ravens gedraftet wurde, eine Bank.
Auf einer volatilen Position wie Corner Back keine Selbstverständlichkeit. Kein Wunder also, dass ihn League Executives, Coaches, Scouts und Mitspieler laut ESPN als sechstbesten CB der Liga sehen. Der gute Mann fühlte nicht nur das Stat-Sheet letztes Jahr (3 INTs, 7 PBUs, 1 FF, 3 Sacks und 3 TFLs), sondern erlaubte obendrein nicht einen Touchdown und ist mit 27 gerade erst in seiner Prime angekommen. Die grauenhaften Takes seien ihm daher verziehen.
Nicht ganz in die Top 10 seiner Positionsgruppe, aber zumindest in die Rubrik „Honorable Mentions“ schaffte es auch Safety Marcus Williams. Vier Interceptions und weitere vier Pass-Breakups bei 20 Targets schreien förmlich nach Ballhawk. Das Big Money Signing der letzten Off-Season (5 Jahre, 70 Millionen, 37 davon garantiert) war im ersten Viertel der Saison der überragende Mann der Defense. Wäre er nicht zwischen Woche 6 und 13 aufgrund einer Handgelenksverletzung ausgefallen, wäre das mediale Echo ob seiner Leistungen zweifelsohne größer. Der 27-Jährige verkörpert das, was wir alle Woche für Woche predigen: „He plays like a Raven!„
Chuck Clark, einer der Dauerbrenner der letzten Jahre (52 von 53 möglichen Starts während seiner Zeit in Baltimore), kann/darf dieses Mantra 2023 leider nicht mehr leben. Nach einem Trade zu den New York Jets (für einen 2024 7th Round Pick) zog er sich zu allem Überfluss auch noch eine schwere Knieverletzung zu. Stellvertretend für alle Ravens-Fans drücke ich dem Guten natürlich die Daumen und hoffe auf eine baldige Genesung. Auf dem Feld gibt es für Baltimore gleich mehre Wege, ihn zu ersetzen. Einer davon wäre der bereits oben genannte Jungspund Kyle Hamilton. Nachdem John Harbaugh diese Off-Season angedeutet hatte, dass Nummer 14 kommende Saison stärker umhergeschoben werden soll, wird es spannend zu beobachten sein, ob wir den Notre-Dame-Graduate vermehrt als herkömmlichen Safety à la Clark oder weiterhin primär als Big Nickel (er spielte 59 % seiner Snaps im Slot in 2022) sehen werden. Eins ist aber gewiss: In einer Welt, in der die Boxen immer leichter und Receiving-Threats immer athletischer werden, ist ein Unicorn wie Kyle Hamilton ein absoluter Cheatcode. Länge, Athletik, Explosivität, Fluidität, Play Strength – dieser Mann hat quasi alles, was es braucht.
Up and Coming?
Sollten wir Hamilton auch nächste Saison wieder vermehrt als Dampfwalze aus dem Nickel zu sehen bekommen, könnte Geno Stone derjenige sein, der den Posten von Chuck Clark beerbt. Der 24-Jährige unterschrieb einen schmalen 1-Jahresvertrag diese Off-Season und könnte sich mit ähnlich starken Leistungen wie letztes Jahr für einen größeren Pay Day positionieren. In Abwesenheit von Marcus Williams zeigte er mehr als solide Leistungen und beendete die Saison mit 38 Tackles, einem Forced Fumble und einem PBU. Was der ehemalige 6th-Round-Pick an athletischer Upside vermissen lässt, macht er mit Soundness in Coverage, Lesen des Spiels und Näschen für den Football wieder wett. Breakout season incoming?
Um bei dem Gedankenspiel von vorher zu bleiben: Würde Youngster Hamilton tatsächlich in eine klassischere Safety-Rolle schlüpfen, könnte Third-Year-Player Brandon Stephens zum Nutznießer werden. Nach einem enttäuschenden letzten Jahr wird der uber-athletische aber noch etwas rohe 25-Jährige alles daran setzen wollen, wieder an seine flashy Rookie-Saison (78 Tackles, 1 TFL, 4 PBUs) anzuknüpfen. So ganz scheint er seine beste Position zwar noch nicht gefunden zu haben, vertraut man aber den Worten des Coaching Staffs, so könnte der ehemalige SMU-Mustang in verschiedenen Positionen eingesetzt werden. Ob er tatsächlich mit Flexibilität glänzt oder viel eher in die Kategorie ‚nicht Fisch, nicht Fleisch‘ fällt, werden wir dann sehen.
Hoffentlich eher in die Kategorie ‚Fels in der Brandung‘ (again: full pun intended) fällt auch Neuzugang Rock Ya-Sin. Der 27-Jährige unterschrieb – ähnlich wie Stone – ebenfalls einen moderaten 1-Jahresvertrag (4 Millionen, 2 davon garantiert) und will in Baltimore an seine soliden Leistungen aus dem vergangenen Jahr anschließen. Nachdem es für den All-Name-Player bei den Indianapolis Colts nie wirklich zum Durchbruch gereicht hatte, konnte er vergangenes Jahr bei den Las Vegas Raiders mit 7 PBUs in 11 Spielen auf sich aufmerksam machen. Nach dem Abgang von Free Agent Marcus Peters ist die Position des CB2 sperrangelweit offen. Das Talent (Länge, physische Spielweise, ‚Temple Tough!‘) ist zweifelsohne vorhanden, die Verletzungen müssen dafür aber der Vergangenheit angehören. Im Minicamp fiel die neue 23 allerdings nicht nur wegen der ausgezeichneten Nummernwahl schon mal positiv auf.
Um den vorher angesprochenen Marcus Peters zu zitieren: „We ain’t done yet!“ Das dürfte auch für den CB-Room der Ravens gelten. Meine Kollegen sprachen im letzten ‚Talk like a Raven‘-Podcast ebenfalls darüber, aber diese Positionsgruppe dürfte noch mit am dünnsten besetzt sein. Ob der Juiceman selber, Kyle Fuller (der sich nach seiner Knieverletzung wohl in Owings Mills rehabilitieren soll) oder gar Anthony Averett. Die Ravens werden mit großer Wahrscheinlichkeit noch einen Veteranen verpflichten, mit oder ohne Baltimore-Vergangenheit.
Ravens and Marcus Peters reunion, anyone?
— Sarah Ellison (@sgellison) April 29, 2023
pic.twitter.com/b2VyyAJHdO
Young Guns
Ob und wie groß diese Dringlichkeit ist, dürfte davon abhängen, wie sich die Youngsters innerhalb des DB-Rooms anstellen. Währenddessen das Bild an der Spitze relativ klar ist, könnte sich um die hinteren Plätze ein wahrer Dogfight entwickeln. Eric DeCosta und Team hassen es, ihre gedrafteten Spieler früh abzuschreiben. Daher dürften Rookie Kyu Blu Kelly (mein Lieblingspick des vergangenen Drafts) bzw. die beiden Sophmores Damarion Williams und Jalyn Armour-Davis die Nase einen Tick vorne haben. Die beiden Viertrunden-Picks aus 2022 müssen dafür aber erstmal fit bleiben. Pepe könnte mit einer Verletzung den Start des Trainingscamps verpassen und JAD plagte sich schon während seiner Zeit in Alabama immer wieder mit hartnäckigen Wehwehchen. Sowohl im Nickel als auch auf Outside wären jedoch genügend Snaps zu vergeben. Wer ergreift hier die Chance auf mehr Spielzeit in 2023?
KYU BLU 🔮
— Oliver Friedl (@Oliver_Friedl) April 29, 2023
➕
Press-Man-Profil, spielt physisch, solide Länge, guter Athlet. Sah sehr gut aus beim Senior Bowl – zumindest bei dem, was ich gesehen habe.
➖
Nicht den elite Long-Speed, beißt teilweise hart auf Headfakes an und die Ball Production ist meh.
Sehr guter Pick hier! https://t.co/e64deKRjzm
Das könnte unweigerlich auch die Tür für Trayvon Mullen und/oder Ar’Darius Washington öffnen. Mullen wurde 2019 in Runde 2 von den Raiders gedraftet, nachdem er bei Clemson zweimal Teil des National Championship Teams war. In der NFL konnte der Cousin von Lamar Jackson trotz seines tollen physischen Make-ups bisher aber noch nicht wirklich Fuß fassen. Nach weiteren Intermezzos bei den Arizona Cardinals und Dallas Cowboys, claimten ihn die Ravens Ende der Saison und nahmen ihn im März unter Vertrag – und zwar voll garantiert. Ein Indikator dafür, dass man in Baltimore durchaus Hoffnungen in ihn setzt. Hoffnungen auf eine größere Rolle wird sich indes auch Ar’Darius Washington machen. Aufgrund der fehlenden Größe unterzeichnete der Safety/Nickel-Hybrid nach dem Draft 2022 als UDFA in Baltimore und kam seitdem in lediglich sechs Spielen zum Einsatz. Aber auch er konnte im Minicamp (was für eine Ironie!) vor allem mit seinen Ball Skills bzw. generellen Spielverständnis auf sich aufmerksam machen und dürfte auf die möglicherweise vakante Rolle im Slot schielen. Als großer Fan seines College-Tapes und gleichgesinnter Short King drücke ich ihm auf jeden Fall die Daumen.
Best of the Rest
Bleibt noch eine Mischung aus Veterans mit Special Teams Qualitäten und eine breite Riege an UDFAs. Daryl „Mr. Release and Re-sign“ Worley und Kevon Seymour kamen bereits vergangene Saison auf acht respektive vierzehn Einsätze – wenngleich die Snaps auf Corner vor allem bei letzterem sehr limitiert ausfielen. ST-Qualitäten sind allerdings für die hinteren Kaderplätze Gold wert. Unter anderem auch deswegen, weil sich der eigene Head Coach ehemaliger Special Teams Coordinator schimpft und das eigene Team seit jeher zur Elite in dieser Hinsicht zählt.
Die Small-School-Cornerbacks Jeremy Lucien (South Alabama, 6-1, 197), Corey Mayfield Jr. (UTSA, 5-10, 194) und Jordan Swann (James Maddison, 5-10, 194) bringen allesamt Athletik und Size mit, währenddessen Jaquan Amos (Ball State, 6-0, 196) aufgrund der dünnen Personaldecke auf Safety ebenfalls genügend Chancen in den nächsten Wochen bekommen dürfte.
Wrap-up
Die Anzahl an Spielern stimmt also schon mal, an der Spitze haben die Ravens Elite-Talent im perfekten Alter. Dazwischen gibt es aber immer noch einige Fragezeichen. Einige, weil sie sich in den nächsten Wochen und Monaten in ganz verschiedene Rollen entwickeln könnten. Andere, weil vor allem Verletzungsfreiheit und Leistungssprünge quasi ein Muss sind. Und dann reden wir noch gar nicht von potenziellen Neuverpflichtungen – ob einer der angesprochenen CBs, ein Safety in der Kragenweite von Adrian Amos (an dem die Ravens früher in der Off-Season Interesse hatten) oder gar ein Trade?
Eins ist auf jeden Fall klar: Defensive Backs werden in Baltimore weiterhin großgeschrieben. Mike Macdonald steht auf eine physische bzw. schnelle Spielweise und will seine Spieler in verschiedenster Art und Weise einsetzten. Daher werden alle Genannten genügend Möglichkeiten bekommen, sich zu beweisen. Wer am Ende den finalen Roster schafft, dürfte mit die spannendste Diskussion der nächsten Wochen sein. Ich für meinen Teil bin schon mal gespannt und zähle nicht nur die Tage zum Trainingscamp, sondern vor allem zum Saisonbeginn. In diesem Sinne: Danke fürs Lesen und Share like a Raven! 😉
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