Als ich diese Kolumne zu Beginn der Saison ins Leben gerufen hatte, war es meine Intention, mir wöchentlich die besten Dinge rund um die Baltimore Ravens herauszusuchen. Was hatte mir in der Vorwoche am besten gefallen, wer sollte noch einen virtuellen Applaus bekommen und warum blicke ich optimistisch in die Folgewoche? Natürlich gepaart mit der nötigen Portion Realität und Weitsichtigkeit – soweit mir das als Fan natürlich möglich ist. Ich würde mich selber als optimistischen Realisten bezeichnen, der ab und an auch die Flinte ins Korn wirft, wenn er die Faxen dicke hat. Doch prinzipiell bin ich den Ravens sehr positiv gegenübergestellt, ab und an braucht es halt die nötige Gegenstimme. Den zusätzlichen Kontext, den erforderlichen Gegenpol. Nach einer – in meinen Augen – sehr guten Off Season war ich durchaus optimistisch, was diese Saison angeht. Der Division-Sieg in der AFC North und ein potenzieller Run in den Playoffs waren für mich absolut denkbar. Der Coaching Staff hatte die richtige Mischung aus altbekannt und neuem Blut, mit Lamar Jackson hatte man einen Top 5 QB in der Liga langfristig gebunden und die Problemstellen des Rosters wurden gut angegangen.
Dennoch hätte ich mir nicht erwartet, dass die Ravens bereits kurz vor der Jahreswende den First Seed in der AFC eingetütet haben. Vor allem in Anbetracht dessen, dass über die gesamte Saison hinweg immer wieder und phasenweise über Wochen hinweg Leistungsträger fehlten. Das ist freilich kein Schicksal, das es in Baltimore exklusiv gibt, dennoch hatte man das eine oder andere Mal das Gefühl, eine potenzielle Verletzung für Spieler XY könnte die Saison aus den Fugen geraten lassen. Dem war glücklicherweise nicht so, auch weil sich potenzielle Verletzungssorgen oft weniger schlimm herausstellten als anfangs befürchtet. Dieses Team hat Talent, Grit, Herz und ist in allen drei Phasen des Spiels exzellent eingestellt. Auch wenn man in Baltimore gerne den Underdog mimt, mit den beiden überragenden Siegen gegen die San Francisco 49ers beziehungsweise Miami Dolphins gehört man zu DEN absoluten Top-Favoriten auf die Vince Lombardi Trophy.
Viele Ravens-Fans haben nach wie vor Flashbacks zur 2019er-Saison. Ganz kann ich diese Angst jedoch nicht nachvollziehen bzw. teilen. Denn alleine die Offense ist DEUTLICH vielfältiger geworden. Etwas, was ich seit Wochen predige. Die Defense mag nicht ganz die historische Saison hingelegt haben, die sich phasenweise andeutete und dennoch hat sie mit DC Mike Macdonald einen genialen Match-Planner an der Seitenlinie und mit Spielern wie LB Roquan Smith, CB Marlon Humphrey sowie S Kyle Hamilton und DT Justin Madubuike Stars von heute und Sternchen von morgen auf dem Feld. Eine Unit, die mit ihren hart gesonnenen Veteranen und jungen Playmakern nahezu perfekt ineinandergreift. Wenn Disziplin auf Big Play Potenzial trifft, wirst du gegen jede Offense (so gut wie möglich) dagegenhalten können. Quasi ein komplettes Team.
Happy New Year! The Baltimore #RavensFlock are now the No. 3 DVOA team since 1981. Obviously, most seasons pre-2021 had 16 games, so we're now comparing Ravens and #49ers to full seasons.
— Aaron Schatz 🏈 (@ASchatzNFL) January 1, 2024
Looking for more SB winners? 2004 NE, 2013 SEA, and 1998 DEN are just below this. #FTTB pic.twitter.com/JikxAKdxIw
Der vermeintlich größte Unterschied zu 2019? Lamar Jackson. An dieser Stelle will ich weder die (quasi ohnehin schon entschiedene) MVP-Diskussion aufwärmen noch über Statistiken wie EPA/Play für einzelne Individuen fachsimpeln. Wer dazu meinen Senf lesen will, dem würde ich einfach mein Twitter-Profil ans Herz legen. Aber das, was Lamar diese Saison fabriziert, ist anders. Er war IMMER SCHON ein talentierter Pocket Passer, sein Arm Talent (Strength, Angles und Touch) war NIE das Problem. Gleichzeitig war freilich nicht immer alles perfekt. Gegen den Blitz hakte es ab und an, das Ball Placement war nicht bei jedem Wurf makellos und durch seinen Spielstil, mit dem er Plays zwar am Leben hält und sich zauberhaft aus Sacks befreit, lädt er den Druck nun mal oft genug selber ein. All diese Dinge sind bis zu einem gewissen Grad auch diese Saison noch wahr – und doch scheint es endgültig *klick* gemacht zu haben. Er navigiert die Pocket mittlerweile nahezu perfekt, weiß wann er in den Creation Mode gehen muss oder wann er sich durch einen Scramble ein First Down erschwindeln kann. Er manipuliert Safeties mit seinen Augen, wirft weg vom Leverage der Verteidiger und geht behutsam mit dem Ball um, obwohl er weiterhin tief wirft und enge Fenster attackiert.
Auf die Gefahr hin, mich zu wiederholen: Aber all diese Dinge waren auch früher schon da. Lamar Jackson ist nicht von heute auf morgen ein anderer Spieler geworden. Und dennoch fühlt es sich neu an, gefestigter, reifer. Das mag an Lamar selber liegen, das kann gut und gerne mit seinem Vertrag (und damit einer gesicherten Zukunft) zusammenhängen und natürlich spielen OC Todd Monken sowie das stark verbesserte Ensemble an Offensiv-Waffen ebenfalls eine entscheidende Rolle. Was am Ende des Tages bleibt: Nummer 8 ist endgültig – und in den Augen (fast) aller – im Elite-Tier der NFL-Quarterbacks angekommen. Defensivreihen müssen ihm NOCH mehr Respekt zollen als in der Vergangenheit, und obwohl seine Counting Stats nicht SO überragend sind, ist er der klare Frontrunner auf den MVP-Titel. „L Freaky“ bringt diese Offense zum Klicken. Den Wert, den er für das Running Game mitbringt, ist schwer zu quantifizieren – aber genau dieser Mehrwert macht ihn so einzigartig. Wir sprechen oft von Dual Threat Quarterbacks, doch oft ist das mehr Gadget als langanhaltender Mehrwert. Lamar ist einer der besten Passer der Liga und der vermeintlich beste Running QB der Liga. Eine wahrhaft tödliche Mischung.
2019 hatte er dieses Level noch nicht erreicht und vor allem war die Gesamt-Offense deutlich eindimensionaler und rigider. Damals neu und schwer zu stoppen, auf lange Sicht allerdings nicht sustainable. Jetzt kann Jackson seine Ideen in die Offense einbringen, hat unter Monken totale Kontrolle an der Line of Scrimmage und dirigiert die Offensive auch nach dem Snap meisterhaft. Diese Dinge gab es so vor 4 Jahren noch nicht. Einiges mag gleich geblieben sein in Baltimore: Der 1st Seed, Nummer 8 als MVP. Doch dieses Team ist anders. Die Offense ist facettenreicher, die Defense vielschichtiger. Wir wissen, in den Playoffs kann viel passieren. Einiges wird von Tagesverfassung, Match-Ups, Glück/Pech, etwaigen Verletzungen und oft wirklich nur einem einzigen Play abhängen. Den Super Bowl zu gewinnen, das ist auch als großer Mitfavorit eine Mammut-Aufgabe. Daher sollten wir nicht enttäuscht sein, wenn es knapp nichts mit dem ganz großen Wurf wird. Und dennoch hat dieses Team das Zeug dazu, im Februar in Las Vegas den Jackpot zu knachen. Und dann liebe Freude, dann gnade euch Gott. Denn ich werde der größte Pain in the Ass und ‚I TOLD YOU SO‚-Boy sein, den twitterdotcom jemals gesehen hat. Also lieber Henri, schnalle dich an – ich komme für deinen Thron.
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